
Der sogenannte Wiener Gesundheitsinfrastruktur-Report 2025 der Ärztekammer zeichnet ein alarmierendes Bild der medizinischen Versorgung in der Bundeshauptstadt: Ineffizienz, fehlende Strategie und chronische Unterinvestitionen bringen das solidarische Gesundheitssystem an den Rand des Zusammenbruchs.
Inhaltsverzeichnis
Überlast in Spitälern und Praxen: Ärzte ziehen Bilanz
Nur fünf Prozent der befragten Ärzte in Wien zeigen sich „sehr zufrieden“ mit der Infrastruktur. Vor gut sieben Jahren lag dieser Wert noch bei 17 Prozent. Ganze 82 Prozent beklagen Strategielosigkeit in der Wiener Gesundheitspolitik, lediglich 15 Prozent sehen ausreichende Investitionen (im Vergleich zu 44 Prozent im Jahr 2018). Viele berichten von zu wenig Zeit für Patientinnen und Patienten, langen Wartezeiten und überfüllten Ambulanzen.
Im niedergelassenen Bereich sei das größte Verbesserungspotenzial zu verorten: 80 Prozent der Ärzte sehen dort dringenden Handlungsbedarf. „Es geht sich nicht mehr aus“, bringt es Eduardo Maldonado-González, Vizepräsident der Kammer und Sprecher der angestellten Ärzte, auf den Punkt – das Hin- und Herschieben zwischen Spital und Praxis führe zu Zuständigkeitslücken, die Patienten belasten.
Rückgang der Versorgungsreserven
Ein zentrales Problem: Wien wächst kontinuierlich – zwischen 2010 und 2025 um etwa 20 Prozent – während gleichzeitig die Zahl der Kassenärzte um knapp 12 Prozent sank (auf rund 1.539). In öffentlichen Spitälern wurden von 2020 bis 2025 insgesamt 6,4 Prozent der Betten abgebaut, während die Einwohnerzahl um 6,1 Prozent zunahm – eine Besorgnis erregende Parallele.
Parallel steigt die Abwanderung von Ärzten in andere Bundesländer oder gar ins Ausland. Die Belastung steigt, die Attraktivität sinkt. Insbesondere im öffentlichen System. Interessanterweise zeigt die aktuelle Ärztestatistik: Obwohl die Gesamtzahl der Ärzte in Österreich zuletzt um 2,7 Prozent stieg, entfällt die Zunahme vor allem auf den privatwirtschaftlichen Sektor. Der öffentliche Bereich, insbesondere Kassen- und Spitalsmedizin, verzeichnet strukturelle Verluste.
Ein weiterer Brennpunkt: Schulärzte. Wien unterstützt derzeit lediglich 141 Ärzte für rund 264.000 Schüler; über 130 Schulen müssen ohne regelmäßige ärztliche Betreuung auskommen. Die unzureichende Besetzung in Pflichtschulen wird mit schlechterer Bezahlung und Zuständigkeiten zwischen Bund, Land und Stadt begründet.
Auch der Wandel hin zur Konzernisierung der Gesundheitsversorgung wird kritisch gesehen: Die Ärztekammer warnt davor, dass private Investoren in öffentliche Strukturen einbrechen und ärztliche Freiheit und Qualität gefährden könnten. Am Beispiel der VAMED-Aktivitäten zeigt sich, wie technische Betriebsführung, Klinikmanagement und Renditedruck in den Fokus rücken.
Konsequenzen und Forderungen
Patienten spüren die Folgen: Wartezeiten für Facharzttermine haben sich vervielfacht, besonders im Kassenbereich. Immer mehr Kollegen wechseln in Wahlarzt‐Ordinationen oder geben Kassenverträge auf, weil die Honorare in Relation zu Aufwand und Verantwortung als untragbar gelten. Jeder Dritte Kassenarzt verweigere heute Neuaufnahmen von Patienten, berichtet die Ärztekammer.
Die Ärztekammer Wien fordert daher:
- Eine klare Strategie und Planbarkeit für die gesamte Gesundheitsinfrastruktur – nicht mehr Flickwerk.
- Faire Honorierung ohne Deckelungen für den niedergelassenen Bereich, um Kassenärzte zu halten und neue zu gewinnen.
- Einbindung der Ärzte in strategische Entscheidungen und Planung.
- Gesetze, die eine Konzentration privater Investoren in sensiblen Versorgungsbereichen einschränken, um Freiberuflichkeit und ärztliche Entscheidungsfreiheit zu sichern.
Trotz der dramatischen Befunde äußert die Ärztekammer Streikbereitschaft: Sollten die ÖGK und die Politik nicht zu einer realistischen Tarifvereinbarung kommen, werde man nicht zögern, Arbeitsniederlegungen als Druckmittel einzusetzen.
Ausblick für Österreich und Lehren für andere Bundesländer
Obwohl der Schwerpunkt im Report auf Wien liegt, lassen sich mehrere alarmierende Tendenzen auch auf andere Bundesländer übertragen: Die Schieflage zwischen wachsendem Bedarf durch demografischen Wandel und Urbanisierung und stagnierenden Ressourcen wird landesweit spürbar. Zudem droht durch die Entwicklung zur Zwei-Klassen-Medizin ein Auseinanderdriften von Versorgung für Besserverdienende und jene mit weniger Ressourcen.
Die Ergänzung durch nationale Statistiken zeigt, dass allein durch Zuwachs bei Ärzten das Problem nicht gelöst wird: Es kommt auf Strukturreformen, bessere Rahmenbedingungen und politische Mutentscheidungen an.
Ein möglicher Hebel liegt in Digitalisierung und KI als Unterstützung zur Entlastung von Bürokratie sowie zur optimierten Patientensteuerung. Im Wiener Report werden solche Instrumente ausdrücklich genannt. Ob diese Ansätze rasch genug greifen können, um den Kollaps abzuwenden, bleibt offen.